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rainer fuchs
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Das Balkonprojekt Anmerkungen zu einer Intervention Gelatins
am World Trade Center (New York) Projektverlauf Am 19. März 2000, bei Sonnenaufgang, zwischen 6.15 und 6.30 Uhr traten die Künstler von Gelatin einer nach dem anderen im 91. Stock des World Trade Centers (WTC) in New York auf einen selbstgebauten und -installierten Balkon hinaus. Der Balkon war gerade groß genug, um jeweils einer Person Platz zu bieten. Er war aus Holzteilen vorfabriziert und nach dem Herauslösen einer Fassadenglaswand ins Freie geschoben worden, wobei seine rückwärtige Verlängerung als Gegengewicht im Raum diente. Nach genau einer Viertelstunde, als die Begehung zu Ende war, wurde der Balkon wieder eingeholt, in seine Teile zerlegt und die gläserne Fassade wieder geschlossen. Von der Öffentlichkeit unbemerkt und ohne Spuren zu hinterlassen, war mit dieser Aktion ein Projekt buchstäblich über die Rampe gegangen, das von Gelatin nur unter strenger Geheimhaltung zu planen und zu realisieren gewesen war. Begonnen hatte die Geschichte mit der Einladung an die Gruppe, einen der vom Lower Manhattan Cultural Council" verwalteten Atelierräume zu nutzen, die sich im WTC befinden. Anstatt den zugewiesenen Raum einfach als Werkstatt und Atelier zu verwenden, entschieden sich die Künstler, durch einen architektonischen Eingriff in den geschlossenen Baukörper sich einen Freiraum nach außen zu verschaffen, um damit den vorhandenen Strukturen ein eigenes autonomes Handlungsfeld einzuschreiben bzw. vorzulagern, das zugleich als Interpretation des vorgebenen Raumes und Gebäudes verstanden werden konnte. Dem Perfektionismus, der technoiden Glätte und dem Anspruch machtvoller Monumentalität und Präsenz des WTC setzten Gelatin mit ihrem roh gezimmerten Provisorium ein Bekenntnis zur Vorläufigkeit, Spontaneität und Risikobereitschaft entgegen. Der grauen Betonwüste des urbanen Alltags implantierten sie mit ihrem Balkon eine Art Ausstiegslucke, die das wahre Abenteuer genau dort verortete, wo es eigentlich nicht vorgesehen ist, bzw. wo man das exakte Gegenteil vermutet. Weil es von vorherein müßig gewesen wäre, um die offizielle Genehmigung für einen solchen baulichen Eingriff anzusuchen, blieb nur der Weg einer Geheimaktion. Der geringste Verdacht, nichtgenehmigte Umbaumaßnahmen zu beabsichtigen, hätte in dem unter strengsten Sicherheitsmaßnahmen stehenden WTC erhebliche rechtliche Konsequenzen nach sich gezogen. Präzises Timing, akribische Vorbereitungsarbeit im Verborgenen und vorausblickendes Kalkül bezüglich eventueller Zwischenfälle waren Voraussetzung für eine solche Baumaßnahme", die als Architekturintervention auch einer Intervention in den von dieser Architektur repräsentierten gesellschaftlichen Funktionszusammenhang gleichkam. Die von Gelatin erstellte Projektbeschreibung liest sich daher auch wie ein unter Verschluß zu haltendes konspiratives Papier von stenogrammartig nüchterner bzw. vertragsmäßig prägnanter Formulierung. Und bezeichnenderweise endet es mit jener Klausel, in der auf die Regelung eventueller Rechtsstreitigkeiten im Falle der Aufdeckung Bezug genommen wird: nobody but gelatin is officially involved into the project / there will be an attorney telling gelatin how to behave / there will be an attorney responsible to handle the case for gelatin." (Gelatin) Damit die Geheimhaltung gewährleistet war, mußte während des gesamten Projektverlaufs Stillschweigen bewahrt, mußten Kontrollen unterlaufen und Täuschungsmanöver ausgeführt werden. Es waren absichtlich weder Journalisten noch anderes Publikum informiert bzw. eingeladen worden und man hatte den Sonntagmorgen gewählt, um in der noch schlafenden Stadt vor den Blicken Neugieriger sicher zu sein. Die Dimensionen des Balkons waren so bemessen, dass er von der Straße aus auf den ersten Blick gar nicht wahrnehmbar war. Außer einem Fotografen, der im gegenüberliegenden Millenium Hilton" postiert war, sowie jener Hubschraubercrew, die eine Videodokumentation des Vorgangs produzierte, war niemand in diese Aktion einbezogen worden. Dass die fotografischen und filmischen Dokumentationsmaterialien erstmals in der vorliegenden Publikation veröffentlicht werden sollten, war von vornherein erklärtes Ziel. Um den Balkon zu installieren, mußte es zunächst gelingen, die Baumaterialien unbemerkt durch die Sicherheitseinrichtungen des Eingangsbereiches zu schleußen. Durch gezielte Ablenkung des Hauspersonals wurden die Eingangskontrollen umgangen und die z.T. großteiligen Holzelemente ins Atelier geschmuggelt. Das Risiko, in schwindelnder Höhe bei schwer berechenbaren Wind- und Druckverhältnissen eine wandbildende Glasfläche schadlos zu entfernen und wiedereinzubauen, zwang zu genauen Voruntersuchungen und zur Besorgung eines großflächigen Ersatzglases, das ebenfalls unbeobachtet ins Innere gebracht werden mußte. Waren Holz und Glas erst einmal eingelagert, mußte der Arbeitsprozess unentdeckt bleiben und durften auch die Mitbewohner der anderen Ateliers nichts von den wahren Absichten Gelatins erfahren. Zu diesem Zweck wurde das Balkonprojekt durch ein anderes getarnt, wurde eine andere, für alle sicht- und wahrnehmbare Kreativmaßnahme als das eigentliche Projekt ausgegeben: So bauten Gelatin in ihrem Studio entlang der Wände eine Rauminstallation mittels Kisten und Schachteln aus Karton. Diese Raumbearbeitung erfüllte im übertragenen Sinn selbst eine Schachtel- und Schutzfunktion, sie verhüllte und verdeckte das Balkonprojekt für die Außenstehenden, bildete also im Grunde dessen Voraussetzung und äußeren Rahmen, sodass man von einer zweistufigen oder zweischaligen Kunstmaßnahme sprechen könnte. Es erfolgte eine Entgrenzung des Raumes nach innen wie nach außen hin in einem Parallelprozess. Das Ungenügen an den starren Raum- und Funktionsvorgaben erschien als ein Grundmotiv sowohl für die vorgeschobene Arbeit wie auch für den hinausgeschobenen Balkon, die gemeinsam einen einzigen, in sich verschachtelten Handlungsrahmen bildeten. In den stereometrisch-sterilen Raum ein lebendig in sich gebrochenes Nischen- und Zellensystem einzuschreiben und sich zugleich von diesem Raum aus einer abgründigen Freiheit auszusetzen, waren im Grunde komplementäre dissidente Verhaltens- und Interpretationsweisen dem Raum und seiner Funktion gegenüber. In ihren vorbereitenden Recherchen hatten die Künstler von Gelatin in Erfahrung gebracht, dass die im Umfeld des Gebäudes aufgestellten Freiskulpturen nicht nur der ästhetischen Überhöhung des öffentlichen Raumes dienten, sondern zugleich auch getarnte Zufahrtssperren waren, die Sprengstoffanschläge durch Selbstmordkommandos abblocken sollten. So wurde im Zuge eines auf Ablenkung und Täuschung basierenden Kunstprojektes deutlich, dass die auf das WTC-Gebäude bezogene Kunst ohnehin selbst im Dienst des Täuschens und Tarnens stand. Die Verharmlosung von Abwehrwaffen zu Kunstwerken und die semantische Aufladung dieser Kunstwerke zu Waffen gingen hier Hand in Hand. Die Kunstverantwortlichen des WTC hatten unbeabsichtigt - aufgezeigt, dass Kunst, wie harmlos und belanglos ihre äußere Erscheinung auch sein mag, in Wahrheit niemals harmlos ist, was sich nicht zuletzt darin zeigte, sie als Mittel der Verharmlosung zu mißbrauchen. Die solcherart im Außenraum vorgetäuschte Kunst erhielt im Inneren durch Gelatins Vorgangsweise ein interpretatives Gegenstück. Mit Kunst nicht einfach anderes, sondern wiederum Kunst zu tarnen, definierte diese getarnte Kunst selbst als eine Art Waffe und setzte der Verharmlosung von Kunst ihre potentielle kriegerische List entgegen. Den terroristischen Zugang zum Gebäude durch getarnte Kunst zu verhindern, fand in Gelatins Vorgangsweise also keine spiegelbildliche Entsprechung, sondern vielmehr ein entwaffnendes Gegenbild. Sich mit der Geheimhaltung und der Tarnung genau jener Mechanismen zu bedienen, die der gesellschaftlichen Funktionalisierung von Kunst im Bereich des WTC dienen, wurde von Gelatin als mögliche Voraussetzung einer, diese Funktionalisierung demontierenden Kunst erkannt (auch die konventionelle Nutzung des Atelierraumes hätte dieser Funktionalisierung entsprochen). Macht- und Kontrollsysteme mit ihren eigenen Strategien zu schlagen, erschien hier zielführender als die offene Konfrontation und ein von vorherein damit verbundenes Scheitern. Exkurs: Verschachtelung und Differenzierung des Raumes Die Einbeziehung des Körpers, die Kanalisierung von Bewegung und körperlicher Befindlichkeit bis hin zu bewußter Irritation und klaustrophopischen Erfahrungen sind für einige Arbeiten Gelatins kennzeichnend. Den gewohnten Raum umzucodieren, die übliche Inszenierung und Korsettierung des Körpers und seiner Identität aufzuheben, diesen entgegenzuarbeiten, um eine reflexive Sicht darauf zu gewinnen, gehört zu den Grundintentionen des künstlerischen Ansatzes. Dabei sind das Überwinden von Distanz, sowie die mit der Beschleunigung oder Verlangsamung der körperlichen Bewegung verbundene Emotionalisierung und Erfahrungsintensivierung bewußt inszenierte Komponenten. Wer sich etwa im Kunstbüro" durch das dort von Gelatin mittels alter Möbel errichtete Labyrinth bewegte und sich durch die engen verwinkelten Höhlungen und Gänge zwängte, dem wurde die Orientierung und die Gewissheit in Bezug auf Position seines Weges entzogen. Der ansonsten kleine und leicht überschaubare Raum verwandelte sich durch die vollständige Verbauung in ein end- und ausweglos erscheinendes Höhlenlabyrinth. Das Wissen um die wahre Größe" dieses Raumes und das Erlebnis eines schier undurchquerbaren Raumes begleiteten zugleich den Weg des Rezipienten/Nutzers. Mit der Identität des Raumes schwand auch die eigene Selbstgewissheit in Bezug auf diesen Raum, die Architektur wurde als metaphorisches Gehäuse für den eigenen Körper und seine Befindlichkeit erfahrbar: Verschachtelung und ständige Verschiebung der Perspektive, mühsam errungene Orientierung und immer wieder die Notwendigkeit, zwischen Irrwegen und Sackgassen unter körperlichen Verrenkungen sich den Weg zu bahnen, sensiblisierten für die Architektur des eigenen Körpers als unentrinnbarem Identitätsgehäuse. Klaustrophopische Eindrücke und die Lust, sich auf verborgenen Abwegen unentdeckt zu bewegen, erwiesen sich im Zuge der Begehung als miteinander verknüpft. Alptraumartige und lustvolle Erfahrungen wurden als changierende, ineinander übergehende Phänomene erkennbar. Der dekonstruierte Raum und die eigene Ausgesetztheit darin wurden als Metapher für den gesellschaftlichen Raum und die Notwendigkeit seiner immer neuen Durchdringung und Konstruktion erfahrbar. Das kontemplative Schauen gehörte hier der Vergangenheit an, Betrachten wurde vielmehr zu einer unabdingbaren Entdeckungs- und Orientierungshandlung, zu einem unausgesetzten konzentrierten Suchen und Finden begehbarer Freiräume und Schlupflöcher. Wenn auf der Expo in Hannover ein unterirdischer, nur durch einen Tauchvorgang zu erreichender Raum konzipiert wurde (Weltwunder"), so galt es auch hier, eine Grenze zu überschreiten, zu durchbrechen, um jenseits davon eine neue und andere Raumqualität zu erfahren, einen Ort außerhalb der bekannten Koordinaten zu erreichen. Einen verborgenen Raum als Weltwunder" tauchend durch eine Schleuße zu erreichen, um dann wiederum an den Ausgangsort zurückzukehren, bedeutete nicht einfach eine Einbahnregelung von einem Ort zum anderen zu entwerfen oder eine Reise in ein Jenseits der Realität anzubieten, sondern bedingte die Verknüpfung auseinanderliegender Orte zu einem einzigen in sich differenzierten Erfahrungsraum. Der mit dieser Arbeit evozierte Raum außerhalb des Raumes blieb ein imaginärer Topos, der jedoch dazu verhalf, das Innere des vorhandenen, realen Raumes einer verinnerlichten Sicht zu entreißen und in diesem Sinne zu entgrenzen. Raumerfahrung nicht zuletzt als Ausbruchsmöglichkeit aus einem homogenisierten und eindimensionalen Realitäts- und Raumverständnis zu definieren (wie in Hannover) oder in einen vorhandenen Raum einen anderen einzuschreiben, bzw. diesen umzuschreiben, um das Gehen im Raum zu einer Entdeckungsreise eines noch nicht gekannten Inneren zu machen (wie im Kunstbüro", Wien), ließe sich mit dem Konzept des Wolkenkratzerbalkons vergleichen. Auch hier wurde ein Raum verlassen, aber doch auch um diesem selbst bzw. um der eigenen Wahrnehmung davon im buchstäblichen und übertragenen Sinn - neue Perspektiven abzugewinnen. Der Umgang mit Räumen bei Gelatin entspricht so gesehen einer Neubelichtung und Öffnung schon vorhandener Räume durch andere und neue Räume. Für diese Art von Raumdefinition erscheint der Dekonstruktionsbegriff, wie er von Jacques Derrida entworfen wurde, aufschlußreich: Es geht nicht um das Heraustreten, um den Gesetzesverstoß der Grenzübertretung, sondern darum, einen Raum innerhalb des alten Raums zu "öffnen". Diese Öffnung schafft keinen neuen besetzbaren Raum, sondern sie schafft eine Öffnung in der Vorstellung von Raum, eine Lücke, die gerade kein Durchlaß mit eigenen Begrenzungen ist, sondern eine Art von Tasche, die innerhalb des alten Sinns von Grenze verborgen wird." 1) Auch Gelatins Arbeiten thematisieren nicht einfach die Flucht aus realen Gegebenheiten in eine andere oder bessere Welt, sondern sie signalisieren die Annäherung an den Raum als Potential und Begriff, als eine in sich verschiebbare Variable und kontextuelle Figur. Zum Thema wird bei Gelatin das Heraustreten, das Grenzgehen selbst als Annäherungsbewegung an den Ausgangsort bzw. dessen Neubewertung aus dissidenter Sicht. Räume zu verlassen, um andere zu betreten, oder Räume durch andere Räume zu besetzen, bedeutet u.a., ein und dasselbe zu sich selbst verschieden zu machen, und dafür die Suche nach Distanz und Umwegen als zielführende Maßnahme vorzuschlagen, sowie die Verschiebung, Bewegung und Dislozierung als eigentliche Aufenthalts- und Erkenntnisorte zu beanspruchen. Sabotage als Neubelichtung Am WTC eine Glasfassade zu durchstoßen, deren Spiegelflächen dazu gedacht sind, das Innere gegen die Blicke von außen abzuschirmen, könnte vorweg als Plädoyer für Durchlüftung und Transparenz in Hinblick auf hermetische und luftdicht-restriktive Systeme gedeutet werden. Aus der einbruchssicheren Nadelstreifarchitektur des Wolkenkratzers auf unerlaubte Weise auszubrechen, verstieß zwar gegen Rahmenvorgaben, brachte zugleich aber auch die Unhintergehbarkeit von Bedingungen und Abhängigkeiten - auch wenn diese selbst vorgegeben wurden - zur Sprache: the balcony is about the feeling you have when you stand on it and about the pleasure you absorb, when beeing totally dependent on a structure and atmosphere you have created yourself." (Gelatin) Die ungeahnte Freiheit und die extreme Ausgesetztheit, die Lust am Normverstoß und die Befürchtung, dabei ertappt zu werden, kulminierten und interferierten im Augenblick des Hinaustretens. Der selbstgemachte Balkon als Plattform individueller Erfahrungen inmitten der gleichförmig monotonen Fassade, erschien wie ein Realität gewordenes Symbol der Dissidenz inmitten urbaner Hermetik und Anonymität. Aber selbst um dies zu erreichen, war, wie gesagt, die Befolgung eines selbst entworfenen und zugleich von der Umgebung indirekt mitbestimmten Regelsystems notwendig. Balkone sind prinzipiell eine Art Ersatzlandschaft, sie verkörpern gewöhnlich einen Übergangsbereich zwischen Innen- und Außenraum, zwischen Wohn- und Stadtlandschaft. Sie sind Aussichtswarte und Bühne gleichermaßen, Orte, von denen aus man die anderen sehen kann, um zugleich von ihnen gesehen zu werden. So verdeutlichen sie nicht zuletzt die Verschränkung von privater und öffentlicher Sphäre und liefern bewohnbare Sinnbilder für die Öffentlichkeit des Privaten: Sind sie doch eine architekturalisierte Form von Freiland und eine Art verlandschaftlichte Architektur gleichermaßen, bzw. reales Symbol dafür, wie sehr der sogenannte private Freiraum buchstäblich und sinnbildlich in der realen Luft hängt und an den sozialen Organismus der Architektur rückgebunden ist. So gesehen sind alle Balkone wie offene Käfige, die Ausgang und Freiheit gewähren und zugleich von den Bedingungen und den Begrenzungen dieser Freiheit zeugen. Diese Ambivalenz ist auch dem Balkon von Gelatin eigen. In der absurden Konstellation seiner winzigen Dimension und seiner solitären Existenz im Kontext der unermesslich anmutenden Fassade erscheint diese Ambivalenz als gleichsam explizites Thema. Der sabotageartige Eingriff in das WTC, das als Bestandteil der landscapes of power.....eine sichtbare Ordnung der herrschenden Ökonomie und Kultur repräsentiert" 2) bedeutete mit der Öffnung neuer Perspektiven nach außen bzw. von außen auf das Gebäude zurück auch eine mögliche Anspielung auf die Zweckentfremdung als architekturinhärentes Prinzip und Korrektiv. Architektur, die gegen ihre ursprüngliche Intention genutzt wird, steht etwa für Jean Baudrillard modellhaft für das Fortleben architekturbezogener Utopien und damit für Architektur" selbst: "....wenn die Architektur nur die funktionelle und programmatische Transkription der Zwänge der sozialen und urbanen Ordnung sein soll, dann existiert sie als Architektur nicht mehr. Ein gelungenes Objekt ist eines, das jenseits seiner eigenen Realität existiert, das auch mit den Benützern eine duale...Beziehung aus Mißbrauch, Widerspruch und Destabilisierung erzeugt." 3) Spricht Baudrillard von einer unbeabsichtigten Radikalität", wenn die Massen.....auf ihre Weise... dem Objekt den unvorhersehbaren Zweck, an dem es ihm mangelt, zuweisen" 4), so könnte man in Fortschreibung dieser Gedanken die Intervention von Gelatin als absichtsvolle Radikalmaßnahme eines Künstlerkollektivs beschreiben, das ein architektonisches Defizit durch Sabotage temporär und symbolisch enthüllte. Das WTC, das Baudrillard selbst in einem Vortragstext als Beispiel dafür zitierte, daß die Architektur schon in den 60er Jahren das Profil einer bereits hyperrealen, wenn nicht schon elektronischen Gesellschaft und Epoche ankündigt, in der die beiden Türme wie zwei Lochstreifen aussehen" 5), unterlag durch Gelatin einer Handlung, die in Baudrillards Terminologie als poetische Verhaltensweise" 6) bezeichnet werden könnte, und die als radikal lustvolle Erfindung vor Ort gegen dieses universale Klonen von Menschen, Orten, Gebäuden, gegen diesen Einbruch einer universellen virtuellen Realität" 7) angeführt werden kann. Die Zwillingstürme des WTC repräsentierten für Baudrillard die Dominanz des Virtuellen in der Architektur als perspektivelose Wiederholung von sich selbst". (...) Man könnte sagen, daß der eine (Zwillingsturm) der Schatten des anderen ist, die exakte Replik. Aber genau der Schatten ist ihnen abhanden gekommen. Der Schatten ist zum Klon geworden! Der Anteil an Alterität, an Geheimnis, an Mysterium, dessen Schatten die Metapher ist, ist verschwunden, hat Platz gemacht einer genetischen Kopie des Gleichen. Der Verlust des Schattens aber bedeutet das Verschwinden der Sonne, ohne die, wie man weiß, die Dinge nur das wären was sie sind." 8) Gelatins Balkon in der aufgehenden Sonne kann in diesem Zusammenhang als erhellende Reanimation betrachtet werden. Sein Schatten auf der Fassade des WTC warf Licht auf ein Dilemma und zeigte zugleich dessen lustvolle Überwindung an. 1) Mark Wigley: Architektur und Dekonstruktion Derridas Phantom, Birkhäuser Verlag, Basel Berlin Boston, 1994, S. 153 2) Peter Noller: Gobalisierung, Stadträume und Lebensstile Kulturelle und lokale Repräsentationen des globalen Raumes, Verlag Leske + Budrich, Opladen 1999, S. 137 [landscapes of power: Der Begriff stammt von Sharon Zukin (S.Z.: Landscapes of Power: From Detroit to Disney World, Univ. of California Press 1991) Diese Landschaften bezeichnen nicht nur das physische Umfeld einer Stadt, sondern auch eine Ensemble von sozialen Praktiken und Symbolen (...) Sie bezeichnen (...) auch die Architektur sozialer Klassen, Geschlechterbeziehungen und Rassen, wie sie sich in der formenden Wahrnehmung einer Stadtlandschaft artikulieren. In einem weiteren Sinn meint &Mac226;landscapes of power die Konnotationen eines ganzen Panoramas, das wir sehen: die Landschaft der Mächtigen (Skyline von Bankhochhäusern, gentrifizierte Gebiete) wie der Machtlosen in den vernachlässigten oder zerfallenden Stadtvierteln." (zit. nach: P. Noller, a.a.O., S. 137)] 3) Jean Baudrillard: Architektur: Wahrheit oder Radikalität?, Literaturverlag Droschl, Essay 40, Graz-Wien 1999, S. 15 4) Ebda., S. 17 5) Ebda., S. 8 6) Ebda., S. 20 7) Ebda., S. 37 8) Ebda., S. 35 9) Ebda. |