Sol Lewitt
Leitsätze über "Conceptual Art"
  1. Konzeptionskünstler sind eher Mystiker als Rationalisten. Sie gelangen sprunghaft zu Schlußfolgerungen, die die Logik niemals erreichen kann.

  2. Rationale Urteile wiederholen rationale Urteile.

  3. Alogische Urteile führen zu neuen Erfahrungen.

  4. Formale Kunst ist in ihrem Wesen rational.

  5. Irrationale Gedanken sollten absolut und logisch gefoldert werden.

  6. Wenn der Künstler während der Ausführung der Arbeit seine Absicht ändert, stellt er das Ergebnis in Frage und wiederholt frühere Ergebnisse.

  7. Der Wille des Künstlers ist zweitrangig für den von ihm ausgelösten Ablauf von der Idee zur Vollendung. Sein Wille mag nur sein Ich ausfüllen.

  8. Wenn Worte oder auch Malerei und Skulptur verwendet werden, bezeichnen sie zugleich eine ganze Tradition und schließen eine konsequente Annahme dieser Tradition ein, auf diese Weise dem Künstler Beschränkungen auferlegend, dem es widerstreben würde, über diese Grenzen hinauszugehen,

  9. Konzeption und Idee unterscheiden sich voneinander. Die erstere umfaßt die generelle Richtung, während die letztere Einzelteil ist. Ideen füllen die Konzeption aus.

  10. Ideen allein können Kunstwerke sein; sie stehen innerhalb einer Kette der Entwicklung, die eventuell irgendeine Form finden wird. Alle Ideen brauchen nicht physisch ausgeführt zu werden.

  11. Ideen schreiten nicht notwendigerweise in logischer Ordnung voran. Sie können jeman den in unerwartete Richtungen bringen, aber eine Idee muß notwendigerweise im Geist abgeschlossen werden, bevor die nächste geformt wird.

  12. Zu jedem Kunstwerk, das physiseh ausgeführt wird, gibt es viele Variationen, die es nicht werden.

  13. Ein Kunstwerk kann als ein Leiter vom Geist des Künstlers zu dem des Betrachters verstanden werden. Aber möglicherweise erreicht es nie den Betrachter, oder es verläßt nie den Geist des Künstlers.

  14. Die Worte eines Künstlers zum anderen können eine Ideenkette auslösen, wenn sie die selbe Konzeption miteinander teilen.

  15. Da keine Form einer anderen ihrer Natur nach überlegen ist, kann der Künstler jede Form benutzen, gleichermaßen vom Ausdruck durch Worte (geschrieben oder gesprochen) bis zur physischen Realität.

  16. Wenn Worte benutzt werden und sie aus Ideen über Ku nst hervorgehen, dann sind sie Kunst und nicht Literatur; Zahlen sind nicht Mathematik.

  17. Alle Ideen sind Kunst, wenn sie sich auf Kunst beziehen und innerhalb der Übereinkünfte (Konventionen) der Kunst liegen.

  18. Gewöhnlich versteht man die Kunst der Vergangenheit, indem man die Übereinkünfte der Gegenwart auf sie anwendet und somit mißversteht man die Kunst der Vergangenheit.

  19. Die Übereinkünfte der Kunst werden durch Kunstwerke verändert.

  20. Erfolgreiche Kunst ändert unser Verständnis der Übereinkünfte, indem sie unsere Wahrnehmung verändert.

  21. Wahrnehmung von Ideen führt zu neuen Ideen.

  22. Der Künstler kann sich seine Kunst nicht vorstellen und kann sie nicht wahrnehmen, bevor sie nicht vollendet ist.

  23. Ein Künstler kann ein Kunstwerk falsch wahrnehmen (es anders verstehen als der Künstler), aber durch diese falsche Auslegung dennoch zu seiner eigenen Kette von Gedanken angeregt werden.

  24. Wahrnehmung ist subjektiv.

  25. Der Künstler muß nicht notwendigerweise sein eigenes Werk verstehen. Seine Wahr nehmung ist weder besser noch schlechter als die anderer.

  26. Ein Künstler kann möglicherweise die Kunst anderer besser verstehen als seine eigene.

  27. Die Konzeption eines Werkes kann den Gegenstand der Arbeit enthalten oder den Prozeß, durch welchen es entsteht.

  28. Wenn die Idee der Arbeit sich einmal im Geist des Künstlers festgesetzt hat und über die endgültige Form entschieden worden ist, wird der Entstehungsprozeß blind ausgetragen. Es gibt viele Nebenwirkungen, von denen sich der Künstler im voraus kein Bild machen kann. Diese können als Ideen für neue Werke benutzt werden,

  29. Der Prozeß ist mechanisch und sollte nicht verfälscht werden. Er sollte seinen Kurs ablaufen.

  30. Ein Werk enthält viele Elemente. Die wichtigsten sind die klarsten.

  31. Wenn ein Künstler die gleiche Form in einer Gruppe von Werken benutzt und das Mate rial ändert, würde man annehmen, daß die Konzeption des Künstlers das Material mit einschließt.

  32. Banale Ideen können nicht durch eine schöne Ausführung gerettet werden.

  33. Es ist schwierig, eine gute Idee zu verpfuschen.

  34. Wenn ein Künstler sein Handwerk zu gut lernt, macht er glatte Kunst.

  35. Diese Leitsätze kommentieren Kunst, aber sie sind keine Kunst.
(Veröffentlicht in: Art - Language, The journal of conceptual art, volume I, Number I Edited by Terry Atkinson, David Bainbridge, Michael Baldwin, Harold Hurrel May 1969)